Horn­schuch 21 – (Fast) ei­ne Le­bens­ge­schich­te

24. Dezember 2010 | von | Kategorie: Der besondere Beitrag

Dies ist die Ge­schich­te ei­nes Hau­ses und sei­ner Be­woh­ner. Sie er­zählt von Kon­ti­nui­tät und Ver­gäng­lich­keit und da­von, dass letzt­end­lich nichts so be­stän­dig ist wie die Ver­än­de­rung.

Hornschuchpromenade 21, um 1990 (Foto: Archiv Doc Bendit)

Horn­schuch­pro­me­na­de 21, um 1990 (Fo­to: Ar­chiv Doc Ben­dit)

Horn­schuch­pro­me­na­de 21. Vier­ge­schos­si­ges Neu­re­nais­sance-Miets­haus, Sand­stein, mit rei­cher, flä­chi­ger Glie­de­rung, Er­ker an der ab­ge­schräg­ten Ecke, 1888 von Ege­rer und Rich­ter; städ­te­bau­li­ches Pen­dant zu Ja­ko­bi­nen­str. 6.

Bür­ger­li­ches Miets­haus mit zwei Woh­nun­gen je Ge­schoß und Stuck­decken, er­baut im Auf­trag des Bau­mei­sters Max Mey­er durch das Ci­vil­bau­bü­ro Ege­rer und Rich­ter. Im Erd­ge­schoß Gast­stät­te.

So trocken und nüch­tern der Blick aus Sicht des »Ha­bel«, der Bi­bel des baye­ri­schen Denk­mal­schut­zes. Kein Wort von ar­men Dienst­mäg­den, stol­zen Po­li­zi­sten, tan­zen­den Bom­ben, rat­tern­den Stra­ßen­bah­nen, oder Ma­xe Grun­digs Mer­ce­des. Die­se klei­nen, mehr oder we­ni­ger wich­ti­gen Be­ge­ben­hei­ten sol­len hier er­zählt wer­den.

 
Wie al­les be­gann

Frau M. auf dem sprichwörtlichen »Brauereigaul« in den 1930er Jahren (Foto: Archiv Doc Bendit)

Frau M. auf dem sprich­wört­li­chen »Braue­rei­gaul«
in den 1930er Jah­ren (Fo­to: Ar­chiv Doc Ben­dit)

Es ist Som­mer 1938, ei­ne jun­ge Frau, wir wol­len sie hier Frau M. nen­nen, folgt dem Ruf ih­rer Schwe­ster, vom länd­li­chen Ober­fran­ken in die Stadt zu zie­hen; man er­hofft sich ei­ne gu­te An­stel­lung. Die Schwe­ster ar­bei­tet zu die­ser Zeit in der Lui­sen­apo­the­ke, Frau M., die vor­her schon auf Bau­ern­hö­fen, in Wä­sche­rei­en und ei­ner Braue­rei ge­ar­bei­tet hat, fin­det sich nun als Aus­hil­fe in der Gast­stät­te »Zur Pro­me­na­de« in der Horn­schuch­pro­me­na­de 21 wie­der. Mit der Stel­le ist prak­ti­scher­wei­se auch ei­ne Un­ter­kunft im Haus zu ha­ben, ei­ne zu­gi­ge Kam­mer ganz oben un­ter dem Dach. Schräg ge­gen­über, auf der an­de­ren Sei­te na­he der Bahn­un­ter­füh­rung steht zu die­sem Zeit­punkt noch ein al­tes Zoll­ge­bäu­de, in dem ei­ne Po­li­zei­wa­che un­ter­ge­bracht ist. Die Po­li­zi­sten su­chen die na­he­ge­le­ge­ne Pro­me­na­de oft und gern nach Fei­er­abend auf, auch Herr S., wel­cher eben­falls gleich über der Wirt­schaft wohnt. So lernt man sich nach und nach ken­nen und fin­det Ge­fal­len an­ein­an­der, schließ­lich folgt die Hei­rat. Ei­ne ge­wis­se Por­ti­on Prag­ma­tis­mus war si­cher­lich auch im Spiel, ist Herr S. doch al­lein­er­zie­hen­der Va­ter von zwei Söh­nen, sei­ne er­ste Frau war früh ver­stor­ben. Auch Frau M. hat be­reits ei­nen Sohn und wird durch die­se Bin­dung ein le­bens­lan­ges Aus­kom­men ha­ben. 1943 wird ein ge­mein­sa­mer Sohn ge­bo­ren.

 
Bom­ben­näch­te und Stun­de Null

Ehemalige Polizeistation an der Jakobinenstraße (Foto: Stadtplanungsamt Fürth)

Ehe­ma­li­ge Po­li­zei­sta­ti­on an der Ja­ko­bi­nen­stra­ße
(Fo­to: Stadt­pla­nungs­amt Fürth)

Frau M.’s Hal­tung zum Na­tio­nal­so­zia­lis­mus reich­te ih­ren Er­zäh­lun­gen nach ver­mut­lich von teil­nahms­los bis wohl­wol­lend, so wie bei den mei­sten Deut­schen je­ner Zeit. Auch vom Krieg be­kam sie in den er­sten Jah­ren nicht viel mit, le­dig­lich der Trup­pen­auf­marsch in der na­hen Nürn­ber­ger Stra­ße zum Kriegs­be­ginn am 1. Sep­tem­ber 1939 ist ihr in hel­ler Er­in­ne­rung ge­blie­ben. Mit Be­ginn der Luft­an­grif­fe auf deut­sche Städ­te durch die Al­li­ier­ten än­der­te sich auch die trü­ge­ri­sche Ru­he an der »Hei­mat­front« schlag­ar­tig: Be­kannt durch Rü­stungs­fa­bri­ken und an ei­ner Ei­sen­bahn­haupt­strecke ge­le­gen, war auch Fürth wie­der­holt Ziel der Bom­ber­ver­bän­de. Punkt­ge­nau­es Bom­bar­die­ren war da­mals wie heu­te ein Wunsch­traum und so streu­ten die haupt­säch­lich auf die Gleis­an­la­gen ab­ge­wor­fe­nen Bom­ben oft­mals weit in die Süd- und Ost­stadt. Auch in der Horn­schuch­pro­me­na­de gab es ei­ni­ge Voll­tref­fer. Frau M., ih­re Kin­der und die an­de­ren Haus­be­woh­ner ver­brach­ten in die­sen wort­wört­lich dunk­len Stun­den manch­mal mehr Zeit im Kel­ler des Hau­ses als in der Woh­nung. Bei ei­nem Tag­an­griff schlug ei­ne Bom­be im Dach des Hau­ses ein, prall­te je­doch am Dach­stuhl ab und lan­de­te vor dem Haus auf der Stra­ße oh­ne zu ex­plo­die­ren. Durch ei­ne of­fe­ne Koh­len­lu­ke konn­ten die im Kel­ler zu­sam­men­ge­kau­er­ten Be­woh­ner be­ob­ach­ten, wie sich der Blind­gän­ger nach Auf­tref­fen auf der Stra­ße dreh­te wie ein Krei­sel und schließ­lich vor dem Haus lie­gen­blieb. Ein le­bens­ret­ten­der Um­stand und auch der Grund da­für, die Kin­der zeit­wei­se ins si­che­re­re Ober­fran­ken zu den Groß­el­tern zu brin­gen – Kin­der­land­ver­schickung pri­vat or­ga­ni­siert.

Ein­mal, so er­zählt Frau M. be­harr­lich, sei sie mit ih­ren Kin­dern auf dem Weg vom ober­frän­ki­schen Exil nach Fürth in Bam­berg hän­gen­ge­blie­ben, weil ein Zug kriegs­be­dingt aus­fiel. Und da es kei­ne wei­te­re Be­för­de­rungs­mög­lich­keit gab wur­de die rest­li­che Strecke zu Fuß ent­lang des Lud­wigs­ka­nal zu­rück­ge­legt, ein Kind fest an der Hand, das an­de­re im Kin­der­wa­gen. Ei­ne Ge­schich­te die man kaum glau­ben mag, sind es doch von Bam­berg nach Fürth gu­te 60 Ki­lo­me­ter.

Nach Kriegs­en­de, zur Stun­de Null, war auch in Fürth nichts mehr wie vor­her: Die mei­sten Fen­ster­schei­ben in Frau M.’s Woh­nung wa­ren zer­bor­sten und mit Kar­to­na­gen aus­ge­bes­sert wor­den. Der Mann von Frau M. war in Kriegs­ge­fan­gen­schaft ge­ra­ten, ein Zim­mer muss­te an Kriegs­flücht­lin­ge aus den ver­lo­re­nen deut­schen Ost­ge­bie­ten ab­ge­ge­ben wer­den und zu Es­sen gab es in der schlimm­sten Pha­se manch­mal nur ei­nen Wür­fel Zucker pro Na­se und Tag.

Al­ler­dings wa­ren die chao­ti­schen Ver­hält­nis­se vor al­lem für die Kin­der auch ei­ne Zeit der gro­ßen Aben­teu­er, wie sie wohl kei­ne Ge­ne­ra­ti­on vor­her und hof­fent­lich kei­ne Ge­ne­ra­ti­on nach­her wie­der er­le­ben wird. Prak­tisch hin­ter je­dem Busch ließ sich zu­rück­ge­las­se­nes Kriegs­ge­rät ent­decken und wur­de aus­führ­lich be­gut­ach­tet. So spiel­ten auch die Söh­ne von Frau M. mit Fund­mu­ni­ti­on, gin­gen mit Sä­beln auf­ein­an­der los oder stell­ten Du­el­le mit ge­fun­de­nen Pi­sto­len nach, oh­ne sich der Ge­fahr be­wusst zu sein die da­von aus­ging. Dies aber im­mer mit der nö­ti­gen Men­ge Glück und stets oh­ne das Wis­sen von Frau M. Na­he der Zäh­stra­ße konn­te man sich in ei­nem ab­ge­stürz­ten Flug­zeug als Pi­lot üben und am Es­pan wur­de ein Bom­ben­trich­ter als Ve­lo­drom ge­nutzt. Die be­reits er­wach­se­nen Söh­ne von Herrn S. hal­ten in­des von ih­rer kaum äl­te­ren neu­en Stief­mut­ter nicht all­zu viel und er­grei­fen als­bald die Flucht aus der ge­mein­sa­men Woh­nung.

Nach zeit­wei­ser In­ter­nie­rung durch die Ame­ri­ka­ner kommt der Fa­mi­li­en­va­ter im Herbst 1945 wie­der nach Hau­se, un­wis­sent­lich be­reits die töd­li­che Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se in sich tra­gend. Die Ärz­te er­ken­nen die Ge­fahr nicht, ein Wun­der, dass nie­mand in­ner­halb der Fa­mi­lie mit der hoch­an­stecken­den Krank­heit in­fi­ziert wird. Als Po­li­zist darf Herr S. nicht mehr ar­bei­ten, so schlägt er sich mehr schlecht als recht als Wä­sche­rei­hel­fer in ei­nem Be­trieb am Schieß­platz durch. Die schar­fen Lau­gen­dämp­fe ge­ben dem schwer­kran­ken Mann schließ­lich den Rest, so­dass er 1951 im Al­ter von nur 59 Jah­ren stirbt. Frau M. wird in der Fol­ge­zeit nicht mehr hei­ra­ten.

Im Haus wird nach dem Krieg kräf­tig um­ge­baut, man will mo­dern sein, al­les Al­te ist ver­pönt. Ei­ne Denk­wei­se, mit der oft noch mehr zer­stört wird als der Krieg es so­wie­so schon ge­schafft hat. Der so­ge­nann­ten »Re­so­pal­wel­le« fal­len als er­stes die Prunk­stücke aus der Er­bau­ungs­zeit des Hau­ses zum Op­fer. Ein von zwei Mar­mor­fi­gu­ren flan­kier­ter Brun­nen im Haus­flur so­wie ein grü­ner, mit rei­chen Or­na­men­ten ver­zier­ter Ka­chel­ofen im Schlaf­zim­mer von Frau M.’s Woh­nung wer­den zer­trüm­mert, Wand­bil­der wer­den über­malt, das Eck­türm­chen auf dem Dach we­gen Bau­fäl­lig­keit ab­ge­tra­gen.

 
Epi­so­den von der Stra­ba

Straba mit Villa Engelhardt (Foto: Stadtarchiv Fürth)

Stra­ba mit Vil­la En­gel­hardt (Fo­to: Stadt­ar­chiv Fürth)

Di­rekt vor dem Haus liegt die Hal­te­stel­le Ja­ko­bi­nen­stra­ße der Nürn­berg-Für­ther Stra­ßen­bahn, die Zü­ge rat­tern auf der al­ten Lud­wigs­bahn­tras­se hin und her, die 1er und die 21er Li­nie ha­ben Hoch­kon­junk­tur und ver­lei­ten die Bu­ben von Frau M. zu al­ler­lei Strei­chen. So ist es ein Hei­den­spaß, die Fahr­gä­ste auf den da­mals noch of­fe­nen Platt­for­men wäh­rend der Fahrt mit Dreck zu be­wer­fen, nach An­hal­ten der Bahn im hin­te­ren Wag­gon die Not­brem­se zu drücken oder Schieß­pul­ver aus Fund­mu­ni­ti­on auf die Schie­nen zu streu­en, was zu ei­nem herr­li­chen Zi­schen und Knat­tern führ­te, so­bald die Bahn dar­über fuhr. Der­lei Schalk blieb den Stra­ßen­bahn­schaff­nern na­tür­lich nicht ver­bor­gen, so dass man­che Bahn nach ver­las­sen der Hal­te­stel­le ab­rupt wie­der ste­hen­blieb und ein Be­am­ter mit Knüp­pel wie der Wind aus ei­nem der Wa­gen sprang um die Übel­tä­ter zu stel­len. Je­doch hat­ten die Schaff­ner meist kei­ne ge­naue Orts­kennt­nis und die Bu­ben wa­ren längst durch das noch un­be­bau­te Grund­stück Horn­schuch­pro­me­na­de 19 ent­wischt.

An des­sen En­de stand in­mit­ten der Häu­ser­schlucht ein klei­nes, ver­wun­sche­nes Haus, das sog. »Zin­ken­häus­la« (be­nannt nach den Be­woh­nern Zink), und die­ses hat­te ei­nen Durch­gang zu Nürn­ber­ger Str. 80 (Gast­stät­te Drei Ro­sen). So konn­te man un­auf­fäl­lig ver­schwin­den, um den Block lau­fen und das gan­ze Ge­sche­hen dann als »neu­tra­ler« Be­ob­ach­ter ver­fol­gen. Auch das na­he­ge­le­ge­ne Bahn­ge­län­de mit der Ran­gier­an­la­ge und der Alt­me­tall­fir­ma Scho­der war ge­ra­de­zu ma­gisch an­zie­hend, und nicht sel­ten kam es dort auch zu Brän­den un­ge­klär­ter Ur­sa­che. Aber das ist ei­ne an­de­re Ge­schích­te...

 
Die gol­de­nen 60er Jah­re

Mit zu­neh­men­dem Al­ter der Söh­ne wuch­sen auch die Kon­flik­te. Man ver­gnüg­te sich in den da­mals noch zahl­rei­chen Wirt­schaf­ten der Um­ge­bung (z.B. Wey­rau­ther, Koh­len­hof, Eli­te­stu­ben, Gol­de­ner An­ker, We­ger­le, Baye­ri­scher Hof, Pas­sau­er Hof, Drei Ro­sen, Keg­ler­heim um nur ei­ni­ge zu nen­nen). Streit war mitt­ler­wei­le an der Ta­ges­ord­nung, ir­gend­wann wur­de es zu viel, und die Söh­ne er­grif­fen die Flucht. Ei­ner von bei­den wohn­te so­gar ein Jahr lang in ei­ner an­ge­pach­te­ten Gar­ten­par­zel­le, um den dau­ern­den Kon­flik­ten aus dem Weg zu ge­hen.

An der Ja­ko­bi­nen­stra­ße fährt re­gel­mä­ßig Max Grun­dig von sei­ner Fir­ma an der Kur­gar­ten­stra­ße zum Pri­vat­wohn­sitz nach Dam­bach. Der da­mals wie heu­te über­gro­ße Mer­ce­des 600 sorgt stets für Auf­se­hen. Eben­falls auf­se­hen­er­re­gend ist der Auf­tritt des da­ma­li­gen Gas­werks­di­rek­tors, wel­cher auch in der Pro­me­na­de wohnt und mit ei­nem wei­ßen Ca­dil­lac mit ro­ten Le­der­sit­zen vor­fährt. US-Stra­ßen­kreu­zer sind zu die­ser Zeit zwar kei­ne Sel­ten­heit, wer­den aber zu­meist von Ame­ri­ka­nern be­wegt.

Auch Frau M. ge­nießt den auf­kei­men­den Wohl­stand. Mit neu­en Be­kannt­schaf­ten und fi­nan­zi­ell ab­ge­si­chert lässt es sich le­ben und so­gar rei­sen – ge­ra­de zu die­ser Zeit ei­ne nicht all­täg­li­che Le­bens­si­tua­ti­on. Al­len in Er­in­ne­rung ge­blie­ben ist ein rüh­ri­ger Schorn­stein­fe­ger­mei­ster aus der Kur­gar­ten­stra­ße, wel­cher aus Zu­nei­gung so­gar für neue Mö­bel sorg­te (Die­se hiel­ten bis zum Aus­zug knapp 50 Jah­re spä­ter!).

Bad mit Ofen, Juli 2010 (Foto: Doc Bendit)

Bad mit Ofen, Ju­li 2010 (Fo­to: Doc Ben­dit)

Schräg ge­gen­über steht in den Sech­zi­ger Jah­ren un­ter der Adres­se Kö­nigs­war­terstra­ße 80 noch die wun­der­vol­le Vil­la des be­kann­ten Für­ther Ma­schi­nen­fa­bri­kan­ten En­gel­hardt. Im Dach­ge­schoß die­ses be­mer­kens­wer­ten Hau­ses war lt. Frau M. so­gar ein Dampf­bad mit Glas­kup­pel in­stal­liert. Die be­sten Jah­re hat das Haus zu die­sem Zeit­punkt si­cher lan­ge hin­ter sich, der Gar­ten ist ver­wil­dert, der Sand­stein schwarz und brö­se­lig. Ein Sohn von Frau M. er­sucht die Stadt Fürth um Er­laub­nis auf dem un­ge­nutz­ten Grund­stück der Vil­la ei­ne Well­blech­ga­ra­ge für sei­nen VW Kä­fer er­rich­ten zu dür­fen. Die Ant­wort der Stadt: das ge­he nicht, da die Ga­ra­ge das Stadt­bild ver­un­zie­re. Kur­ze Zeit spä­ter wird die Vil­la ab­ge­ris­sen. Zeit­ge­nös­si­sche Ab­bruch­be­grün­dun­gen lau­te­ten in et­wa so: für sich al­lei­ne lie­bens- und er­hal­tens­wert, aber Ge­samt­wir­kun­gen im We­ge. Klar, man woll­te klot­zen, nicht kleckern, vor al­lem mit Be­ton, da war so ei­ne pit­to­res­ke Schön­heit nur Bal­last. Si­cher­lich hat wohl auch der lie­be Herr Schicke­danz im Hin­ter­grund an der Ent­schei­dung mit­ge­wirkt, woll­te er doch auf die­sem Ge­län­de ein Mit­ar­bei­te­rin­nen­wohn­heim für sei­ne Quel­le er­rich­ten. Ne­ben­an ent­stand in der Fol­ge­zeit ein Spar­kas­sen­wür­fel. Die­se Mon­stro­si­tä­ten in­mit­ten der ho­mo­ge­nen, im Stil des spä­ten Hi­sto­ris­mus er­rich­te­ten Be­bau­ung, wir­ken bis heu­te wie Fremd­kör­per und mehr als ab­sto­ßend.

Im Volks­mund setz­te sich für das Wohn­heim schnell die Be­zeich­nung »Nut­ten­aqua­ri­um« durch, auf die Her­kunft die­ses Wor­tes mag sich je­der selbst ei­nen Reim ma­chen. In der Horn­schuch­pro­me­na­de ist man in­des von ei­nem Dampf­bad so weit ent­fernt wie die Rus­sen vom Mond. Erst 1973 wird end­lich ein ei­ge­nes Bad mit Wan­ne in der Woh­nung in­stal­liert. Vor­her ist Wa­schen nur an ei­nem klei­nen Me­tall­aus­guss in der Kü­che mög­lich, ge­ba­det wur­de ein­mal in der Wo­che im gro­ßen Wasch­zu­ber der im In­nen­hof ge­le­ge­nen Wasch­kü­che. Al­ter­na­tiv gab es noch das Städ­ti­sche Brau­se- und Wan­nen­bad in der Frau­en­stra­ße oder gleich das Fluß­bad. Wei­te­re Um­bau­ten er­fol­gen im Bad nicht mehr, noch im Jahr 2010 wird zum Ba­den der Holz­ofen be­feu­ert.

 
Als U‑Bahn und Spu­bu nach Fürth ka­men

»Schienenersatzverkehr« für die Straba, 1981-1982 (Foto: Archiv Doc Bendit)

»Schie­nen­er­satz­ver­kehr« für die Stra­ba, 1981–1982
(Fo­to: Ar­chiv Doc Ben­dit)

1981 fährt die Stra­ßen­bahn dann zum letz­ten Mal von Fürth nach Nürn­berg. Be­reits we­ni­ge Ta­ge nach der Ab­schieds­fahrt der Stra­ßen­bahn wer­den die Schie­nen un­brauch­bar ge­macht, man will die al­te Tech­nik so schnell wie mög­lich los­wer­den. Das Kar­ree zwi­schen Horn­schuch­pro­me­na­de, Ja­ko­bi­nen­stra­ße und Geb­hard­stra­ße ver­wan­delt sich in der Fol­ge­zeit in ei­ne ein­zi­ge gro­ße Bau­stel­le für die nä­her­rücken­de U‑Bahn. Bus­se über­neh­men zwi­schen­zeit­lich den Schie­nen­er­satz­ver­kehr zwi­schen der Stadt­gren­ze und dem Für­ther Haupt­bahn­hof, an der Stel­le des frü­he­ren Lud­wigs­bahn­hal­te­punkts en­steht der als »Ver­tei­ler­ge­schoss« fun­gie­ren­de »Platz der Op­fer des Fa­schis­mus«.

Ein kur­zes Ka­pi­tel in der jün­ge­ren Für­ther Ver­kehrs­ge­schich­te soll an die­ser Stel­le auch nicht un­er­wähnt blei­ben. Es han­del­te sich da­bei um ein tech­nik­gläu­bi­ges Pro­jekt na­mens »Spur­bus«. Ein fah­rer­lo­ses Ge­fährt, wel­ches mit­tels In­duk­ti­on selbst­stän­dig sei­nen Weg über ei­ne im Bo­den ein­ge­las­se­ne Lei­ter­schlei­fe fin­den soll­te. Die­ser, von den Für­thern schlicht »Spu­bu« ge­nann­te Selbst­läu­fer, dreh­te wäh­rend der U‑Bahnbauphase Ja­ko­bi­nen­stra­ße – Haupt­bahn­hof test­wei­se sei­ne Run­den, ge­nau­er ge­sagt zwi­schen Ja­ko­bi­nen­stra­ße und Für­ther Frei­heit. Die En­kel von Frau M. be­ob­ach­te­ten un­gläu­big vom Wohn­zim­mer­fen­ster aus das selbst­dre­hen­de Lenk­rad und den un­tä­tig da­ne­ben­sit­zen­den Fah­rer. Die­ser muss­te aus Si­cher­heits­grün­den wei­ter­hin an Bord blei­ben, so­mit war die er­hoff­te Ko­sten­ein­spa­rung wohl da­hin und das gan­ze Pro­jekt ver­schwand in der Fol­ge­zeit still und heim­lich in der Schub­la­de. Tei­le des Füh­rungs­ban­des sind bis heu­te noch hier und da im Bo­den zu fin­den.

 
Von der Pro­me­na­de zur Dy­na­stie – Ver­än­de­run­gen ste­hen an

En­de der 1980er Jah­re steht das Haus dann zum Ver­kauf. Die Ei­gen­tü­me­rin, ei­ne Schwä­ge­rin von Frau M. und »Haus­frau«, ist ver­stor­ben, die Nach­kom­men sind in al­le Win­de zer­streut. Ein In­ter­es­se an der Im­mo­bi­lie, die zu die­ser Zeit ei­nen er­heb­li­chen Re­pa­ra­tur­stau auf­weist be­steht nicht, und so folgt schließ­lich der Ver­kauf. Sor­gen, was pas­sie­ren wird mit Haus, Woh­nung und Mie­te sind in­des un­be­grün­det, der neue Ei­gen­tü­mer, ein Chi­ne­se, gibt sich freund­lich und si­chert ein le­bens­lan­ges Wohn­recht zu, die Woh­nung kann blei­ben wie sie ist, bis auf klei­ne­re, drin­gend nö­ti­ge Re­no­vie­run­gen. Das WC wird end­lich vom Haus­flur in die Woh­nung ver­legt, Iso­lier­glas­fen­ster er­set­zen die al­ten un­dich­ten Dop­pel­rah­men, ein Gas­ofen nimmt den Platz des al­ten Koh­len­ofens im Wohn­zim­mer ein und ei­ne Sprech­an­la­ge wird in­stal­liert. Spä­ter wer­den lei­der auch noch die in­nen­lie­gen­den Fen­ster zum Haus­flur ver­klei­det, so­mit wirkt der ur­sprüng­lich hel­le, wie ein Lau­ben­gang wir­ken­de Woh­nungs­flur nun dun­kel und un­ge­müt­lich.

Auch im so­zia­len Um­feld gibt es Ver­än­de­run­gen. Bis in die Sieb­zi­ger Jah­re wa­ren die Mie­ter durch­weg deut­scher Her­kunft, nun zieht plötz­lich ein Ita­lie­ner ein. In der von Spie­ßig­keit ge­präg­ten At­mo­sphä­re gleicht das ei­nem mitt­le­ren Skan­dal. Die Mehr­heit der Haus­be­woh­ner sind aber nach Frau M.’s Auf­fas­sung noch »or­dent­li­che Leu­te«. Im Lau­fe der näch­sten zwei Jahr­zehn­te wird sich das Ver­hält­nis kom­plett um­keh­ren und Frau M. wird zwi­schen Chi­ne­sen, Viet­na­me­sen und Afri­ka­nern zum Au­ßen­sei­ter in der Wohn­ge­mein­schaft...

Geschleifter Frisörladen 1991 (Foto: Archiv Doc Bendit)

Ge­schleif­ter Fri­sör­la­den 1991 (Fo­to: Ar­chiv Doc Ben­dit)

1991 tut sich was im Erd­ge­schoss: Ein Chi­na-Re­stau­rant soll die al­te »Pro­me­na­de« er­set­zen, je­doch reicht die Flä­che nicht aus. Was folgt, ist ein ri­go­ro­ser Um­bau, um Platz zu schaf­fen wird der ge­sam­te Haus­flur nach links ver­scho­ben, der Fri­sör­la­den wird auf­ge­löst, der In­nen­hof mit den Wirts­haus­toi­let­ten wird zur Kü­che. Schwül­sti­ges Chi­na-De­sign mit hö­ze­r­nen Lö­wen, Dra­chen und Kor­mo­ra­nen er­setzt fort­an die al­te Wirts­haus­ein­rich­tung mit ih­rer ge­müt­li­chen Rund­um­bank. Im Kel­ler sol­len die neu­en Toi­let­ten in­stal­liert wer­den. Das hat zur Fol­ge, dass Frau M. ihr Kel­ler­ab­teil auf­lö­sen muss. Hört sich un­spek­ta­ku­lär an, hat es aber in sich, denn in Frau M.’s Kel­ler be­fin­det sich noch ei­ne statt­li­che Koh­len­hal­de aus der Zeit, als der Koh­le­ofen im Wohn­zim­mer für Wär­me sorg­te. Ein Be­kann­ter aus frü­he­ren Zei­ten hat­te ir­gend­wann in ei­ner Blitz­ak­ti­on ei­ne enor­me Men­ge Ei­er­bri­ketts aus du­bio­ser Quel­le be­schafft und durch ei­ne Fen­ster­lu­ke in Frau M.’s Kel­ler ge­schüt­tet. In der Fol­ge konn­te man die Kel­ler­tür nur noch ei­nen Spalt breit öff­nen um sich hin­ein­zu­quet­schen. Ir­gend­wie fand sich aber dann doch noch recht­zei­tig ein Käu­fer für den fos­si­len Brenn­stoff.

Doch zu­rück zum Re­stau­rant: Das Kon­zept soll­te dem neu­en Ei­gen­tü­mer Recht ge­ben, Chi­na­re­stau­rants sind An­fang der Neun­zi­ger in Fürth noch Man­gel­wa­re, uns so brummt der La­den über vie­le Jah­re. An­fangs so­gar so gut, dass es ei­ne zeit­lang ei­nen Gar­ten­be­trieb in der Grün­an­la­ge zwi­schen Horn­schuch­pro­me­na­de und Kö­nigs­war­terstra­ße gibt. Auch die skep­ti­sche Frau M. er­liegt schließ­lich dem neu­ar­ti­gen Stil und te­stet die Fern­ost­kü­che. In der Fol­ge­zeit wird sie stets das Ge­richt Nr. 25 »Schwei­ne­fleisch mit Kost­bar­kei­ten« be­stel­len (»Des kann ma’ scho essn«). Der Fri­sör fin­det ei­ne neue Blei­be in der Nürn­ber­ger Stra­ße.

 
Der un­mög­li­che Herr Süß

Ehemaliger Kiosk, Hornschuchpromenade 20 1/2 (Foto: Archiv Doc Bendit)

Ehe­ma­li­ger Ki­osk, Horn­schuch­pro­me­na­de 20 1/2
(Fo­to: Ar­chiv Doc Ben­dit)

Di­rekt vor dem Haus exi­stier­te bis in die 1990er Jah­re ein klei­ner La­den. Die­ses ova­le, mit hell­grü­nen Stein­plat­ten ver­klei­de­te Häus­chen stand dort seit 1953, vor­her be­fand sich be­reits ein klei­ne­rer, eben­falls ova­ler und mit tau­sen­den Mo­sa­ik­flie­sen ver­klei­de­ter Ki­osk an glei­cher Stel­le. Bei die­sem Vor­gän­ger­bau han­del­te es sich um das ehe­ma­li­ge Kar­ten­häus­chen des Lud­wigs­bahn­hal­te­punkts »Fürth Ost«. Die­ses wur­de nach Ab­riss des links von der Ja­ko­bi­nen­stra­ße ge­le­ge­nen Bahn­hofs per Rol­len auf die an­de­re Stra­ßen­sei­te ver­scho­ben. So­viel zur Ge­schich­te des Ki­osks selbst, wir wol­len uns nun dem lang­jäh­ri­gen Päch­ter des La­dens, Herrn Süß zu­wen­den. Herr Süß bot in sei­nem Obst­la­den auch al­ler­lei an­de­re Le­bens­mit­tel an, un­ter an­de­rem auch das bei den En­keln von Frau M. be­lieb­te Was­ser­stan­gen-Eis. Die­ses gab es in den Ge­schmacks­rich­tun­gen rot, grün, weiß und Co­la und ko­ste­te 30 Pfen­nig pro Stan­ge. Frau M. hin­ge­gen pfleg­te zu Herrn Süß ei­ne in­ni­ge Feind­schaft und ließ sich im La­den nicht blicken, höch­stens im Not­fall wenn ganz drin­gend et­was ge­braucht wur­de. Ob es am Na­men lag, an den Prei­sen oder an der Tat­sa­che, dass Herr Süß beim Feh­len von Kund­schaft meist vor sei­nem La­den saß und zu Frau M. hin­auf­blick­te, wir wis­sen es nicht ge­nau. Letz­te­res ist wahr­schein­lich, da Frau M. dann im­mer die Wohn­zim­mer­vor­hän­ge zu­zog und laut fluch­te: »etz glotzt der scho wid­der raaf...«. Was mag sich wohl der Herr Süß da­bei ge­dacht ha­ben? Viel­leicht: »Etz glotzt dey scho wid­der run­der«. Ir­gend­wann, es muss kurz vor der Jahr­tau­send­wen­de ge­we­sen sein, war der Ki­osk dann auf ein­mal ver­schwun­den.

 
Der All­tag und das plötz­li­che En­de

Frau M. , Anfang 2000 in ihrer Küche (Foto: Doc Bendit)

Frau M. , An­fang 2000 in ih­rer Kü­che
(Fo­to: Doc Ben­dit)

Bis En­de der 1990er Jah­re geht al­les sei­nen ge­wohn­ten Gang, Frau M. kocht an ho­hen Fei­er­ta­gen für die Fa­mi­lie, das klei­ne Wohn­zim­mer wird re­gel­mä­ßig zum Schau­platz von bi­zar­ren Geburtstags‑, Faschings‑, Weih­nachts- und Sil­ve­ster­fei­ern. Bei Letz­te­ren läuft stets das be­kann­te »Din­ner-for-One« im Fern­se­hen. Frau M. lauscht dann, ob­wohl ge­nau wis­send was pas­siert, je­des Jahr auf­merk­sam der Sen­dung. Wer in die­sen 20 Mi­nu­ten durch ge­dan­ken­lo­ses Spre­chen stört, oder noch schlim­mer, durchs Bild läuft, ern­tet bö­se Blicke und mehr. All die­se Ri­tua­le sind fest in des Au­tors Hirn ein­ge­brannt, In­sti­tu­tio­nen so­zu­sa­gen, die von Ge­burt an im­mer gleich ab­lie­fen und ei­gent­lich in al­le Ewig­keit so wei­ter­lau­fen muss­ten. Die De­mon­ta­ge der hei­len Welt aus Kin­der­ta­gen be­gann ganz lang­sam, schlei­chend, fast un­be­merkt.

Seit den 2000er Jah­ren wird es zu­neh­mend ru­hi­ger um Frau M. Das Lau­fen wird be­schwer­lich, die Aus­flü­ge zum sonn­täg­li­chen Mit­tag­essen neh­men eben­so ab wie der re­gel­mä­ßi­ge Kirch­gang, die Fa­mi­li­en­tref­fen oder die Gar­ten­be­su­che in der na­hen Süd­stadt. Die einst­mals viel­ge­lob­te Koch­kunst be­schränkt sich nun nur­mehr auf das Auf­tau­en von Fer­tig­ge­rich­ten, vor­bei die Zei­ten von Sau­er­bra­ten und Hein­er­le-Weih­nachts­ge­bäck. Die mei­sten Ge­schwi­ster sind be­reits ver­stor­ben, die bei­den Söh­ne, eben­falls im Ren­ten­al­ter, und de­ren An­ge­hö­ri­ge küm­mern sich Wech­sel um Haus­halt, Ein­kauf und an­de­re nö­ti­ge Din­ge des All­tags.

Auch dem Re­stau­rant im Erd­ge­schoss geht es nicht mehr so gut. Nach mehr­ma­li­gem Na­mens- und Gen­re­wech­sel scheint An­fang 2010 ent­gül­tig Schluss zu sein. Kon­kur­renz gibt es mitt­ler­wei­le an al­len Ecken und En­den, und die im­mer schon schlech­ten Park­mög­lich­kei­ten las­sen zu­neh­mend die Gä­ste weg­blei­ben. Der Ei­gen­tü­mer will die Gast­stät­te nun als Bü­ro­raum ver­mie­ten. Wahr­schein­lich ist aber eher, wie schon dut­zend­wei­se an­ders­wo ge­sche­hen, der Um­bau zu Wohn­zwecken – ge­wohnt wird schließ­lich im­mer.

Doch zu­rück zu Frau M: im Mai 2010, nach ge­nau 70 Jah­ren (der Miet­ver­trag da­tiert vom 01.05.1940), geht dann al­les ganz schnell. Oh­ne gro­ße Vor­ge­schich­te geht es Frau M. plötz­lich schlecht, ein Kran­ken­haus­auf­ent­halt ist nö­tig, da­nach leich­te Bes­se­rung, Frau M. darf wie­der nach Hau­se. Ei­ne Wo­che spä­ter er­neut ins Kran­ken­haus, dann Re­ha – Lau­fen ler­nen. Zwi­schen­durch reift die schwer­wie­gen­de Er­kennt­nis: es geht nicht mehr in der völ­lig ver­al­te­ten Woh­nung, die An­ge­hö­ri­gen kön­nen nicht mehr hel­fen, ei­ne Pfle­ge­un­ter­kunft scheint die be­ste Al­ter­na­ti­ve. Ein har­ter Schlag, vor al­lem für Frau M., die es vor dem Al­ters­heim graust, und die im­mer da­heim in ih­rer Pro­me­na­de ster­ben woll­te. Nun, es war ihr nicht ver­gönnt, nicht ein­mal ein ge­ord­ne­ter Ab­schied von Haus und Woh­nung war in der Kür­ze der Zeit mög­lich.

Stuck und Schutt, Ende eines Lebensabschnitts, August 2010 (Foto: Doc Bendit)

Stuck und Schutt, En­de ei­nes Le­bens­ab­schnitts,
Au­gust 2010 (Fo­to: Doc Ben­dit)

In der Fol­ge­zeit wird die Woh­nung auf­ge­löst, Mö­bel und Haus­rat wer­den so gut es geht an Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen und an­de­re In­ter­es­sier­te ver­teilt, ei­ni­ge we­ni­ge Stücke wan­dern in den Haus­rat des Au­tors und was gar kei­ne Ab­neh­mer fin­det, lan­det schließ­lich auf dem Sperr­müll. Nein, kei­ne Angst, der ku­rio­se Ba­de­ofen hat na­tür­lich über­lebt und tut nun Dienst für ein Bad auf der Ten­ne süd­lich von Nürn­berg. Ei­ne al­te Nuss­baum­vi­tri­ne im Stil des Gel­sen­kir­che­ner Ba­rock darf wei­ter­hin ih­ren Dienst als Ak­ten­schrank ver­rich­ten, ei­ni­ge Bü­cher, dar­un­ter ein »Re­gens­bur­ger Koch­buch« von 1911 blie­ben eben­falls er­hal­ten und die al­te Näh­ma­schi­ne von Pfaff (Mo­dell »K«) wird zum neu­en Blick­fang – und Staub­fän­ger.

Im Pfle­ge­heim ge­fällt es Frau M. wi­der Er­war­ten zu­nächst gut, man trifft auf längst ver­stor­ben ge­glaub­te Nach­barn, Pfle­ge­kräf­te ent­pup­pen sich als Nach­kom­men von ehe­ma­li­gen Be­kann­ten, ver­blass­te Er­in­ne­run­gen wer­den plötz­lich wie­der le­ben­dig. Die an­fäng­li­che Eu­pho­rie weicht je­doch schnell der Er­nüch­te­rung, das lan­ge Al­lein­le­ben von Frau M. wird zu­neh­mend zum Pro­blem: Die In­te­gra­ti­on in die Heim­ge­mein­schaft fällt ihr schwer, den Mit­be­woh­nern steht Sie kri­tisch ge­gen­über und von den Pfle­ge­kräf­ten kann es ihr kaum ei­ner recht ma­chen. Hier tritt nun auch wie­der die an­de­re Sei­te von Frau M. in Er­schei­nung, die zeit­le­bens eben nicht nur nett und be­schei­den, son­dern auch nei­disch, miss­gün­stig und hin­ter­li­sitg war. But the sto­ry still goes on – im No­vem­ber konn­te Frau M. bei kla­rem Ver­stand ih­ren sechs­und­neun­zig­sten Ge­burts­tag fei­ern und in ihr heiß er­sehn­tes Ein­zel­zim­mer um­zie­hen !

Und das Haus? Ach ja, das steht mal wie­der zum Ver­kauf, viel­leicht war die Zeit für die »Schei­dung« zwi­schen Frau M. und der Pro­me­na­de ein­fach reif...

 
Der Au­tor ist ein En­kel von Frau M. und hielt die lan­ge Ver­weil­dau­er sei­ner Oma an ei­nem Ort für et­was Be­son­de­res, bis er letz­tens in den Für­ther Nach­rich­ten fol­gen­de An­zei­ge le­sen muss­te: »...gra­tu­lie­ren wir un­se­rer lie­ben Oma zu neun­zig Jah­ren Was­ser­strass«.

 
Quel­len:

Gerd Walt­her: Bei­der­seits der Lud­wigs­bahn, städ­te­bil­der ver­lag, 1989
Hein­rich Ha­bel: Denk­mä­ler in Bay­ern, Stadt Fürth, Lipp-Ver­lag 1993
Für­ther Ge­schichts­werk­statt: Ei­sen­bahn­stadt Fürth, städ­te­bil­der ver­lag, 2007
Stadt Fürth: U‑Bahnhof Hard­hö­he, Stadt Fürth, 2007
Wi­ki­pe­dia – Die freie En­zy­klo­pä­die
Für­thWi­ki – Das On­line-Nach­schla­ge­werk über Fürth

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9 Kommentare zu »Horn­schuch 21 – (Fast) ei­ne Le­bens­ge­schich­te«:

  1. Ge­schich­te, die das Le­ben schreibt.

    Als Nürn­ber­ger, den es vor 38 Jah­ren ge­zwun­ge­ner­ma­ßen aus be­rufl­li­chen Grün­den nach Fürth ver­schla­gen hat, be­rührt mich die­ser Ar­ti­kel ir­gend­wie recht po­si­tiv.

    Es sind hier Be­ge­ben­hei­ten an­ge­spro­chen, wel­che man – so­wohl in städ­te­bau­li­cher Sicht als auch aus der Per­spek­ti­ve ei­ner ver­gan­ge­nen Kind­heit – ähn­lich in mei­nem Gäu (Mö­geldorf) er­le­ben konn­te...

    Für mich ei­ne neu­zeit­li­che Weih­nachts­ge­schich­te (oh­ne süß­li­che Krip­pen­ro­man­tik – aber mit bul­lern­dem Ba­de­ofen) – ein­fach gut ge­schrie­ben und be­bil­dert ... wer ist Doc Ben­dit ?

  2. Der Doc Ben­dit ist der­je­ni­ge, der bei mir drü­ben als »Gra­ben­ken­ner« in Er­schei­nung tritt und dort un­ter die­sem be­zie­hungs­rei­chen Pseud­onym schon an vie­len Stel­len schlaue Kom­men­ta­re bei­gesteu­ert hat. So viel – glau­be ich – darf man ge­trost ver­ra­ten...

  3. Doc Bendit sagt:

    Der Doc ist un­ter An­de­rem auch da stark ver­tre­ten. So, ge­nug ge­le­akt jetzt !
    Vie­len Dank für das net­te Feed­back !!

  4. Steini sagt:

    Wie bei (Groß-) Mut­tern.
    Die Woh­nung als Kon­stan­te für meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen.
    Welch schö­ner Kon­trast zur ver­lo­ge­nen »hei­len« Wer­be­welt.

    Ich wün­sche Fr. M. viel Spaß bei Ih­rem »Din­ner-for-One«.

  5. Heidi sagt:

    Ei­ne schö­ne Ge­schich­te – das En­de ist nicht so schön aber so geht es wohl al­len, die alt wer­den.

    Wer wohnt heu­te schon noch so lan­ge in der glei­chen Woh­nung?

    Zwei Her­ren hier sind mir auch schon mal be­kannt – je­den­falls aus dem Netz.

    Die Horn­schuch­pro­me­na­de ist ein wun­der­ba­res Are­al. Und ich freue mich ge­ra­de, dass ich die­se Sei­te ent­deckt ha­be (ei­gent­lich woll­te ich wis­sen, was mit den Säu­len des Haupt­bahn­hofs pas­siert ist).

    Vie­le Grü­ße und noch vie­le ent­spann­te »Din­ner for One« für Frau M.

  6. Doc Bendit sagt:

    hal­lo Hei­di,

    dan­ke für die net­ten Wor­te. Zu den Säu­len kann ich fol­gen­des be­rich­ten: die er­ste und so­mit äl­te­ste Säu­len­rei­he wur­de samt Zu­be­hör ins DB-Mu­se­um ver­bracht und dort ein­ge­la­gert. Dies ge­schah aber nicht aus dem Be­wusst­sein der Bahn für ih­re Ge­schich­te her­aus, son­dern nach Pro­te­sten en­ga­gier­ter Bür­ger (wel­che sich üb­ri­gens auch bei der Für­ther Frei­heit rum­trei­ben). Die zwei­te und drit­te Säu­len­rei­he jün­ge­ren Da­tums gin­gen an die Stadt Fürth (ver­mut­lich zum Bau­hof ?). Was da­mit in Zu­kunft pas­sie­ren soll, weiß wohl nie­mand so ge­nau. Zu­min­dest im DB-Mu­se­um ist an ei­ne Aus- bzw. Auf­stel­lung erst­mal nicht ge­dacht.

    Die­se In­fo ha­ben wir vor Ort vom De­mon­ta­ge-Bau­trupp er­hal­ten, da wir ei­ni­ge von den ur­sprüng­lich zur Ver­schrot­tung frei­ge­ge­be­nen Säu­len selbst si­chern woll­ten. Was na­tür­lich jetzt nicht heißt, dass die Säu­len da­mit dau­er­haft ge­ret­tet sind. Die sog. »Ein­la­ge­rung« hat nicht sel­ten zur Kon­se­quenz, dass die ein­ge­la­ger­ten Ob­je­ke ir­gend­wann sang- und klang­los bei Aus­mistak­tio­nen oder Platz­man­gel doch noch ver­schwin­den, sie­he nur das von der Stadt Fürth »ein­ge­la­ger­te« Geismann-Bräu­st­überl, von dem bis auf zwei Sand­stein­bö­gen und ein Zier­git­ter im Lau­fe der Zeit nix mehr auf­zu­fin­den war.....

  7. Erik Sulzer sagt:

    Hal­lo,

    ich bin der Nach­bar von Frau »M« und durch Zu­fall auf die Sei­te hier ge­sto­ssen und war wirk­lich über­rascht. Ei­ne sehr in­for­ma­ti­ve Ge­schich­te, und ich bin froh et­was mehr über »un­ser« Haus zu er­fah­ren. Auch bin ich dank­bar für die al­ten Bil­der.

    Ich freue mich dass es Frau »M« so­weit gut geht, man hat sich oft sei­ne Ge­dan­ken ge­macht, da sie in letz­ter Zeit ih­re Woh­nung im­mer we­ni­ger bis gar nicht mehr ver­las­sen hat. Ich ha­be sie als net­te sehr freund­li­che wenn auch recht neu­gie­ri­ge :-) al­te Da­me ken­nen­ge­lernt. Ein kur­zes Schwätz­chen im Haus­flur war im­mer drin.

    Die Sto­ry des Hau­ses geht wei­ter. Ein neu­er Be­sit­zer ist da, es ste­hen ei­ni­ge Re­no­vie­rungs­ar­bei­ten an. Bis jetzt hört es sich nicht schlecht an was er vor hat. Es wird auf je­den­fall nichts mehr »ver­ba­stelt« oder rui­niert. Er will das al­te er­hal­ten.

    Als Ab­schluss noch ei­nen Gruß an Frau »M« und ih­re Fa­mi­lie.

  8. Doc Bendit sagt:

    hal­lo Herr Sul­zer,

    dan­ke für die In­fo ! Gruß ha­be ich wei­ter­ge­ge­ben, Frau M hat sich ge­freut.

  9. Doc Bendit sagt:

    Im Ju­li 2013 ist Frau M fried­lich ein­ge­schla­fen.

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