»Europa ist kein Traumland«
2. Oktober 2014 | von Moritz Schulz | Kategorie: PolitikIn einem Kinosaal berührten am Freitagabend Flüchtlinge und Sozialarbeiter das Publikum mit einem authentischen Einblick in eine isolierte Lebenswelt – erst auf der Leinwand, dann davor.
Es sind zwei Dinge, die die Kinokarte im Babylon an diesem Abend erzählt: Erstens eine Geschichte von deutschem Papierkram, denn man bekommt sie, ohne dafür Eintritt zu zahlen. Zweitens der Hinweis unter dem Titel »Land in Sicht«: Freie Platzwahl. Mit dieser Karte beginnt im kleinen Fürther Kino ein Dokumentarfilmabend über Flüchtlinge, die nicht bleiben konnten, wo sie lebten; die nach Zahlen und Verteilungsquoten irgendeiner Kleinstadt zugeteilt werden und die dann das Wort »Residenzpflicht« lernen. Und mit der Zeit versuchen, zu leben – normal, in Deutschland. Mit erstaunlichem Witz und feiner Ironie erzählt »Land in Sicht« aus dem oftmals paradoxen und öfter traurig komischen Leben dreier Asylbewerber irgendwo in Brandenburg. Das unterscheidet den Film vom typischen Bildnis bemitleidenswerter Tristesse.
Vom typischen Kinobesuch hingegen unterscheidet diesen, dass nach dem Film das Licht angeht und alle sitzen bleiben. Denn das Besondere dieses Abends liegt nicht in den Schicksalen des Jemeniten, des Iraners und des Kameruners in Brandenburg, es liegt in denen der zwei Flüchtlinge, die nun vor der Leinwand stehen. Anna Akobians Stimme klingt lange Zeit sehr fest, gefasst erzählt die Armenierin von ihrer Zwangsheirat mit einem Russen, von sexueller Gewalt; sie sagt: »Ich habe keine Liebe gehabt und ich habe kein Leben gehabt.« Sie berichtet von einem Selbstmordversuch, vom Erwachen in der Klinik und muss zum einzigen Mal um Fassung ringen, als sie erklärt, dass die Nachricht von ihrer Tochter ihr Leben geändert hat. Akobian flieht, heimlich, und tauscht Russland gegen das Erstaufnahmelager Zirndorf. Mit einer falschen Identität erschleicht sie sich die Duldung, sie erzählt von der Unerträglichkeit des Heimlichen bis zur Selbstanzeige. Sechs Jahre wartet sie am Ende auf ihre Anerkennung, heute hat sie drei Minijobs. Und wieder Freude am Leben.
Es ist diese Mischung aus tragischen Biografien und optimistischer Lebenskraft, die diesen Abend vielschichtig und berührend machen. Ähnlich erstaunt, was Nihad Bakr erzählt: Der junge Kurde aus Syrien erleidet die Wucht staatlicher Repression, als er sich politisch engagiert, flieht über Landmärsche und mit Schlauchbooten nach Deutschland und studiert demnächst Soziale Arbeit an der evangelischen Fachhochschule Nürnberg. »Europa ist ein Traumland für jeden Jungen in Syrien«, berichtet er. »Aber das ist nicht real. Es ist kein Traumland.«
Diese Realität kennt Barbara Entner, Flüchtlingsberaterin der Fürther Caritas, in- und auswendig. Zusammen mit Jochen Sahr vom Integrationsbüro der Stadt Fürth ergänzt sie die persönliche Berichte mit Erfahrungen aus der fachlichen Praxis und stellt sich den Fragen eines Publikums, das bei diesem Thema milde köchelt zwischen Frustration und Unverständnis. Gefühle, die der Berufsalltag schnell beiseite drängen muss.
»Kommen Sie gut nach Hause«, sagt Sahr am Ende noch zum Abschied. Und man nimmt es dann als Privileg wahr, zu wissen, wo das ist: zu Hause.