Leiden in der Stille – Migrantinnen in der Pandemie
8. Juni 2021 | von Alexandra Pashalidis | Kategorie: VermischtesWir lesen viel, hören viel, in den Talkshows reden Politiker, Virologen, „Experten“. Es ist die Rede von Inzidenzen, vom Testen, vom Impfen, vom Reisen, vom »normalen Leben«. Ab und zu ploppt so nebenbei auf, wer viel, wer mehr und wer am meisten unter Corona zu leiden hat. Mit mehr oder weniger auffallenden Schwerpunkten. Wir von der Frauenwerkstatt M17 erfahren ab und zu noch, wie das stille Leiden aussieht, was zuhause los ist, wie es den Müttern geht, wenn sie nicht ins Sprachtraining, nicht in den Qualifizierungsunterricht, nicht zum Praktikum, nicht ins Café kommen können – davon wollen wir berichten.
Eine Gruppe, die ohne Worte, ungehört, ungesehen leidet, weil sie halt daran gewöhnt ist zu leiden, sind Migrantinnen; Mütter, Hausfrauen, studiert oder ohne große Schulbildung. Sie reden wenig darüber – vielleicht weil die Sprache fehlt, vielleicht, weil es ihnen selber im Augenblick gar nicht bewusst ist oder weil sie mehrfach erfahren haben, dass es sowieso niemand hört?
Aisa – spricht wenig deutsch, kann wenig lesen, wenig schreiben. Ihr jüngstes Kind in der Grundschule hat Homeschooling, d.h. es sieht die Lehrerin eine halbe Stunde am Tag. Versteht soviel nicht, frägt nicht nach, ist alleine, kann die anderen Kinder nicht fragen. Und die Mutter? Sie versteht noch viel weniger als ihr Kind, sieht, dass es zurück fällt, nicht mehr mitkommt, dieses bayerische Schulsystem ist ihr sowieso ein Rätsel. Selbst wenn sie sich traute: sie kann die Lehrerin gar nicht direkt anrufen, sie hat nur die Nummer vom Sekretariat und dann dauert es... Sie weiß nicht, wie man eine E‑Mail schreibt und ihr Deutsch ist schlecht – was macht das für einen Eindruck? Und ihr Kind darf auch nicht in die Notbetreuung.
Sie allein fühlt sich verantwortlich, für das Kind, für die Schule, für die Familie, für das Funktionieren von all dem, was ihr schon lange über den Kopf wächst. Und die Verzweiflung und die psychische Belastung werden größer und größer. Keine Gespräche mit Freundinnen, kein Qualifizierungsunterricht in Präsenz, kein Spaß, kaum Lockerheit mehr – alles ist mühsam, die Menschen schwer zu erkennen, schwer zu verstehen hinter Scheiben, hinter Masken.
Sprachkurse – online – für die Schwächsten? Die ohne Gestik, Mimik, ohne lächelnde Gesichter, die sie tatsächlich in echt sehen, nicht in der Lage sind, eine Sprache zu lernen. Oder für die, die keinen Laptop, kein Internet, kein WLAN, keine gute Verbindung, keine technischen Kenntnisse, keinen Menschen haben, der ihnen hilft? Und die sogar Angst haben, sich Technik auszuleihen: Was ist, wenn was kaputt geht, wie reparieren, wie zahlen? Es fehlen Informationen, Verbindung zu Leuten, die sich auskennen, Geld.
Und selbst die, die das alles einigermaßen managen – nach Monaten mit Kindern zuhause, wenig Bewegung, kaum Kontakten, großer Unsicherheit, ständig wechselnden Vorschriften, die sie oft erst zu spät oder gar nicht mitbekommen oder falsch verstehen – sind müde, zermürbt, können an keinem Online-Unterricht mehr teilnehmen, weil sie keine Kraft mehr haben oder die Kinder sowieso alle fünf Minuten durchs Bild sausen und was brauchen...
Yun, alleinerziehende Mutter mit behindertem Kind, auf Hartz IV angewiesen, in Quarantäne, glaubt, wenn sie sich negativ testen lässt, darf sie vielleicht doch raus aus der engen Wohnung ohne Balkon – und sie geht raus. Und sie wird von der Lehrerin ihrer Tochter gesehen. Und die verpfeift sie beim Ordnungsamt: 500 Euro Bußgeld sind viel; zu viel bei all der psychischen Belastung, der Sorge, wie es weitergeht, dem isoliert sein, den fehlenden Perspektiven.
Ilia hat vier Kinder, davon drei im Homeschooling. Sie hat in ihrer Heimat als Lehrerin gearbeitet, hier kann sie ihren Kindern nicht helfen, sie sind auf sich allein angewiesen. Sie kommen schlecht zurecht, brauchen lange für ihre Aufgaben, manchmal den ganzen Tag. Alle verbringen viel Zeit in der Wohnung. Zu viel. Ein Brief kommt – von der WBG: die ermahnt sie; die Familie soll sich ruhiger verhalten, Nachbarn hätten sich beschwert.
Da ist er wieder: der Druck von allen Seiten, die Schule will Leistung, die Nachbarn wollen Ruhe, die Familie soll funktionieren. Wie? Das interessiert niemanden!
Viele Mütter sind erfüllt von Angst und gehen überhaupt nicht mehr raus, die Kinder sind Tag und Nacht in der Wohnung, bewegen sich nicht, sehen keine Freundinnen. Sportangebote, Freizeit-Orte, Feiern... All das fehlt und führt dazu, dass die Kinder einsam vor dem Tablet hocken, spielen und keine Motivation zum Lernen haben. Und sie gewöhnen sich an all dies! Was das für uns als Gesellschaft bedeutet, werden wir die nächsten Jahrzehnte sehen und spüren...
Alexandra Pashalidis ist Projektleiterin der Frauenwerkstatt M17 bei der ELAN GmbH, der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft der Stadt Fürth
Ich bin mit Ihnen vollkommen einer Meinung darüber, dass die Situation von Personen wie jenen, die Sie als Beispiele anführen, vor Augen zu haben wichtig ist, wenn wir uns ein möglichst umfassendes Bild dessen machen wollen, wie es Menschen in dieser Pandemie ergeht – über die Grenzen dessen, was wir unmittelbar erleben oder hören hinaus. Solche Informationen zugänglich zu machen ist mithin sicher ein guter Zweck eines Artikels.
Dennoch bleibe ich irgendwie mit der Frage zurück, was genau daraus nun folgen soll. Möchten Sie diese drei Einzelbeispiele bekannt machen? Möchten Sie sagen, dass diese Einzelbeispiele repräsentativ für ganz viele weitere Fälle sind? (Ist das so?) Bringen Sie die Beispiele vor, um zu zeigen, dass an der ursächlichen Politik etwas falsch ist? Wenn ja, was genau halten Sie für falsch? Ich hoffe, Sie fühlen sich da nicht zu unfreundlich von mir gelesen – aber irgendwie entsteht durch das bloße Schildern dieser Problemsituationen für mich ein gewisser suggestiver Flair: so als sei doch offensichtlich, was das nun bedeute. Das zumindest scheint es mir nicht zu sein. (Abgesehen davon, dass die Betroffenen natürlich jeweils in einer bedauerlichen Situation sind.)
Im Übrigen wünsche ich Ihnen weiterhin viel Energie für Ihr wertvolles Engagement!